Buch-Empfehlungen und eigene Projekte

Milena Michiko Flasar "Ich nannte ihn Krawatte" 



Milena Michiko ist eine junge österreichische Autorin mit einer japanischen Mutter und einem österreichischen Vater. Für "Ich nannte ihn Krawatte" erhielt sie den Alpha Literaturpreis. Worum geht es in ihrem Buch:

Zwei Männer aus verschiedenen Generationen: hier ein Twen, dort ein Endfünfziger, der eine ein Hikikomori, der andere ein Salaryman, der den Verlust der Arbeitsstelle vor seiner Frau verheimlichen muss. Beides Außenseiter, Traumatisierte, Gescheiterte, aus dem System einer Leistungsgesellschaft Gefallene. Ganz langsam nähern sie sich einander an, werden so etwas wie innere Freunde über alle Grenzen und Gegensätze hinweg.

Ein Roman über einen Hikikomori - das ist an und für sich schon außergewöhnlich. Aber die Autorin bietet mehr: Psychologisch brillant werden hier sonst eigentlich nicht "erzählbare" seelische Phänomene knapp, eindringlich und ganz ohne Kitsch den Lesern näher gebracht - pralles Leben mit vollem Licht und Schatten - und das sogar in einer Sprache, die beginnt, einen eigenen, unverkennbaren Stil zu entwickeln und die eine starke Sogwirkung entfaltet. Was wirklich nicht einfach ist und selten gelingt.
So typisch japanisch viele der dargestellten Szenen auch sind oder sein mögen - an vielen Stellen werden sich manche Leser sicherlich direkt nach Japan katapultiert fühlen - so oder so ähnliche Lebensgeschichten finden sich dennoch auch in unserer und anderen Gesellschaften. Eine Geschichte über zwei Leben, die ihre Leser gefühlsmäßig sehr stark berührt und dauerhaft im Gedächtnis haften bleibt - auch im emotionalen Gedächtnis.

Schließlich ist am Ende auch die Art und Weise beeindruckend, wie die beiden Protagonisten schließlich ihren eigenen Weg gehen, versuchen in ihr Leben zurück zu finden, ihm einen individuellen Sinn zu geben. Ein Buch, das auch nach der Lektüre noch lange nachwirken dürfte.

Wir bedanken uns sehr herzlich beim Verlag Klaus Wagenbach/Berlin für das Sponsoring unserer Verlosung des Romans!



Yoko Ogawa "Schwimmen mit Elefanten" 

 


Bevor ich loslege sei zunächst einmal dem Münchner Liebeskind-Verlag doppelt gedankt: Zum ersten, weil er eine Verlosung des  Romans von Yoko Ogawa auf unserer web site ermöglicht hat, zum zweiten, weil - zufälligerweise ganz wie in der Besprechung des zuvor erschienenen Ogawa-Bandes gewünscht - nunmehr ein Buch von Yoko Ogawa auf Deutsch veröffentlicht wurde, das in Japan im Jahr 2009 erschien und so nun den deutschsprachigen Fans der Autorin einen Einblick in das jüngere, fast schon aktuelle Schaffen der Autorin gewährt.

Wie in "Das Geheimnis der Eulerschen Formel" greift Ogawa ein Thema von mehr oder weniger speziellem Interesse auf und vermag, auch ohne besondere Fachkenntnisse bei den Lesern vorauszusetzen, einen bleibenden Eindruck dieses Spezialgebiets zu vermitteln, der die ganze Magie dieses vermeintlich abseitigen Themas spürbar werden lässt. So auch hier. Es geht um die Welt der Schach-Freaks und Schach-Nerds. Und wer von Ogawas so fesselnden wie überzeugenden Psychogrammen ihrer Figuren immer auch einen Anteil des Magisch-Fantastisch-Surrealen erwartet, wird auch diesmal nicht enttäuscht.

Ich muß an dieser Stelle das Buch vor seinem Klappentext ein wenig in Schutz nehmen: Der Roman ist diesmal geradliniger und bodenständiger erzählt als viele seiner Vorgänger. Über weite Strecken verzichtet der Text nicht auf Plausibilität, Stringenz und Chronologie der Handlung - was im Klappentext so abgefahren anmutet, ist eher der virtuosen Verstrickung zahlreicher Leitmotive geschuldet, die mir in diesem Buch jedoch hin und wieder trotzdem etwas konstruiert und bemüht erschien. Dafür gibt es diesmal ein superromantisch-tragisches Ende, das geradezu nach einer Verfilmung schreit, bei der (selbst) man(n) schwer schlucken muß, um die Tränen zu unterdrücken. Wird hier aber nicht verraten!

Worum geht es im Roman?

Ein kleiner Junge wird mit einer Deformation geboren und seine zusammengewachsenen Lippen müssen durch plastische Chirurgie geformt werden. Dabei erhält er Lippen aus der Haut seiner Waden, weshalb er später irgendwann gegen die hartnäckige Behaarung auf seinen Lippen kapituliert. In seiner Klasse daher ein Freak, meidet er seine ihn mobbenden Mitschüler und schleicht sich bereits vor Unterrichtsbeginn in die Schule. Dabei entdeckt er eines Tages durch Zufall die Leiche eines Busfahrers, der die Schwimmanlage der Schule unerlaubt benutzte - ebenfalls ein Freak, aber ein Schwimm-Freak. Die Sache läßt dem Jungen keine Ruhe und bei seinen Nachforschungen über den obskuren Toten lernt er einen ehemaligen Kollegen des toten Busfahrers kennen, ebenfalls ein schräger Typ (den ich gerne mal auf der Leinwand erleben möchte!), der ihn für die Welt des Schach begeistert und sein Meister im urjapanischen Sinne des Wortes wird.

Aus dem jungen Freak mit den behaarten Lippen wird ein Schach-Nerd und Wunderkind. Wie alle Freaks hat er aber gleich mehrere Macken: Am besten spielt er Schach, wenn er unter dem Schachtisch sitzt und das Spiel komplett vor seinem geistigen Auge visualisiert (was die story sogar recht plausibel herleitet!).

Durch Vermittlung seines Meisters trifft er auf einen Klub Schach-Verrückter-Ogawa-Style (DAS muß man selbst gelesen haben, sonst kann man es sich nicht vorstellen) und wird durch das Zusammentreffen mit diesem Klub zum "kleinen Aljechin" - ein Schachwunderkind, versteckt in einem Schach-Automaten, der an von Kempelens "Schachtürken" erinnert, aber den "Großmeister Aljechin" auf mechanische Weise als humanoiden Automaten in der Tradition der Androiden Vaucansons wiederauferstehen lässt. In seinem Schachspiel geht es ihm mehr um Ästhetik und die Gefühle, die sich bei ihm und seinen Gegnern beim Spielen einstellen als um das Gewinnen, dazu kommt der spektakuläre Reiz des vermeintlich künstlichen Lebens eines Androiden.


Der Titel des Romans leitet sich von seiner Leitmotivik ab und dem, was das Schach in seinen abstrakten spirituell-kosmischen Dimensionen seelisch in dem Protagonisten bewirkt. Hier schafft es der Roman tatsächlich dieses Gefühl des Erhabenen, Transzendenten, Kosmischen (und was an derlei romantischen Topoi mehr passen könnte) zu vermitteln, das sich auch im Schach finden lässt, wenn man intensiv genug in das Sujet eindringt. Schließlich verquickt der Roman dies alles noch mit einer surrealen, romantischen und tragischen Liebesgeschichte, die Ogawa-Style ist, aber auch gekonnt an Parallelen aus Weltliteratur und Weltkino erinnert.

Wie der Protagonist am Ende unter Auslöschung seiner Person und seines Selbst ganz Teil des Schach-Universums wird, ist sehr japanisch gedacht und ein perfekt passendes Ende. Mehr soll aber nicht verraten werden...


Hier hat eine Autorin zu ihrem souveränen Stil gefunden und es wäre nicht fair von jedem ihrer Romane ein "das-haut-mich-jetzt-total-um" zu erwarten. Wer Ogawas Bücher mag, wird hier mehr auf seine/ihre Kosten kommen als beim Vorgängerbuch. Die Ogawa-Magie hat sie bis in die Gegenwart hinein noch drauf, die Fans können diesbezüglich also beruhigt sein. Mich besonders beeindruckt hat im Unterschied zu früheren, stärker psychologisierenden Texten die Fähigkeit der Autorin, in ein neues Sachgebiet einzutauchen und nicht nur sehr geschickt zu recherchieren, sondern aus den Ergebnissen der Recherche etwas höchst Eigenständiges, Faszinierendes zu entwickeln. Hier schafft es die Autorin auch, auf diskrete, aber sehr treffende Art auf Kollegen der Weltliteratur anzuspielen. In gewisser Weise setzt sich so die "Automaten-Literatur" des 18. und 19. Jahrhunderts in die Gegenwart fort - aber eben Ogawa-Style. Das verdient ein "Wow!" und macht hoffentlich vielen Lesern Lust auf die diversen literarischen Vorgänger von E.T.A. Hoffmann über Jean Paul bis zu Lawrence Durell und Philip K. Dick. Zu den Schach-Anspielungen kann ich leider keine kompetenten Anmerkungen machen, was die Autorin jedoch über Baron von Kempelens "Schachtürken" in ihr Werk hat einfließen lassen, ist meines Erachtens sehr gelungen.

Also: Lest selbst und wer mehr über Androide, Automaten und künstliche Menschen in der Literatur wissen möchte, dem sei das Standard-Werk zum Thema empfohlen, das es hier gibt...

Yasutaka Tsutsui

"Professor Tadano an der philosophischen Fakultät"



Es freut die Japanfreunde Hamburg sehr, heute eines der wenigen auch auf Deutsch erschienenen Bücher des in Japan mehrfach ausgezeichneten und sehr bekannten Schriftstellers Yasutaka Tsutsui vorstellen zu können, zum einen, weil er aus unserer Partnerstadt Osaka stammt und zum anderen, weil das Buch im Hamburger Alsterverlag erschienen ist, dem wir für die Verlosung herzlich danken.

Ausgerechnet Deutschlands prominenteste und in der deutschen Verlagswelt einflussreichste Japanologin, Irmela Hijiya-Kirschnereit, sorgte mit einem Verriss der ersten Übersetzung 2007 im Feuilleton der FAZ für einen Nicht-Start des Autors in Deutschland, wünschte ihm dafür einen späteren Neustart bei uns, der mit dem vorliegenden Band vielleicht diesmal gelingen mag. In Japan muss Tsutsui niemanden mehr etwas beweisen und ist dort mit seinen über dreißig Romanen vor allem für Science Fiction gemischt mit schwarzem Humor und Slapstick, aber auch für seine mangelnde political correctness bekannt. Hierzulande dürfte er - indirekt - am bekanntesten für die Werke sein, die von ihm als Anime verfilmt wurden. Besonders hervorzuheben ist hier der wirklich großartige Film „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“, der auf Tsutsuis Roman „Toki o Kakeru Shojo“ zurückgeht, andere Romane wurden beispielsweise von so bedeutenden Filmemachern wie Satoshi Kon umgesetzt.

Während manche Tsutsui vorwerfen, von allem etwas in seinen Büchern den Lesern vorzusetzen, rühmen ihn andere als experimentierfreuden, kritischen wie sehr intellektuellen Kopf. Auf jeden Fall ein Autor, an dem sich die Geister scheiden - und das gilt auch für den hier vorgestellten Band „Professor Tadano an der philosophischen Fakultät“!

Worum geht es?

Das ist nur bei oberflächlicher Betrachtung so einfach zusammenzufassen. Denn das Buch ist nicht nur thematisch und inhaltlich vielschichtig, sondern macht sich selbst, sein Erzählen und sein Zustandekommen als Buch immer wieder selbst zum Thema (ein Effekt, wie wenn man sich mit einem Spiegel vor einen weiteren Spiegel setzt und sich in der Bilderflucht betrachtet). Sogar der Autor wird auf diese Weise ein Teil der Romanhandlung.

Bedenkt man, dass das Buch in Japan bereits 1990 erschien, dann ist klar: Das ist hier „klassische“ postmoderne Metafiktion à la David Lodge (an dem alle, die sich mit Literaturtheorie beschäftigen, nicht vorbei kommen), John Barth oder vor allem auch John Fowles. Und als ein solches mehrfaches Buch im Buch auf vielen verschiedenen Text- und Realitäts-Ebenen geht es nicht nur um die Erlebnisse des Protagonisten Professor Tadano an seiner Fakultät, sondern gleichzeitig um eine Reihe von Vorlesungen über Literaturtheorie, die Tadano seinen Studenten und den Lesern hält.

Quasi „nebenbei“ erhalten die Leser so eine Tour d`Horizon der wichtigsten Literaturtheorien der Gegenwart, aber - wie immer in diesem Buch - immer wieder anders. Mal nahtlos, geradezu unauffällig-gefällig eingebettet in die (Rahmen)-Handlung, mal, an einer besonders turbulenten Stelle der Handlung um den kauzigen Professor, mittels eines „harten Schnitts“ wie man ihn aus action-Filmen kennt.

Anfangs sind die Vorlesungen inhaltlich noch äußerst schrullig gehalten, voller „insider-gags“, die nur Menschen verstehen können, die sich selbst über Jahre hinweg (am besten als Dozent für Literaturwissenschaft!) mit Literaturtheorie beschäftigt haben und die daher die sehr launigen Zusammenfassungen der präsentierten Theorien als zwar höchst subjektiv aber cum grano salis dennoch korrekt einzustufen vermögen. Gegen Ende des Bandes jedoch werden die Vorlesungen immer anfängerfreundlicher, erhalten mitunter geradezu den vorbildlichen Charakter einer zwar stets ironisch-kritischen, aber trotz des lässigen Stils in der Sache schwer korrekten und - für diesen Inhalt - recht unterhaltsamen Einführung. Besonders zu loben ist hier das Kapitel über die Rezeptionstheorie, das mir als jemand, der einen der beiden Begründer dieser literaturwissenschaftlichen Forschungsrichtung noch persönlich kennenlernen durfte, rundum supergut gefallen hat. Gleiches Lob verdient meines Erachtens das Kapitel über Hermeneutik. Wer also eine unterhaltsame wie launige Einführung in die Literaturwissenschaft sucht, um mal abzuchecken, was für ihn an Theoretikern in Frage käme und was nicht (gelegentliche Ausflüge in die Philosophie eingeschlossen), der ist ausgerechnet in diesem japanischen Werk goldrichtig.

Eingebettet ist diese fachliche Seite von Professor Tadano in eine derbe Satire des von ihm vorgefundenen Universitätsbetriebs. Inwiefern diese Parodie auf japanische Verhältnisse zutrifft, vermag ich nicht zu beurteilen, inwiefern jedoch auf die hiesigen, ist jedem, der Erfahrungen mit bundesrepublikanischen Elfenbeintürmen hat, selbst überlassen. Ich stimme aber mit denjenigen Lesern und Kommentatoren des Buches überein, die sich passagenweise immer wieder auch an unsere Verhältnisse erinnert fühlten. Und diese Satire hat es in sich. Derb ist eigentlich noch eine naive Beschönigung. Es tun sich in den Erlebnissen Tadanos haarsträubende Abgründe auf: Intrigante Machenschaften und Denunziationen, die die Zornesadern aller Gerechten anschwellen lassen, Korruption auf allen Ebenen, Führungspositionen, die nichts mit Leistung, sondern allein mit Speichelleckerei und sexuellen Dienstleistungen zu tun haben, krasse Sauforgien, Betrügereien finanzieller wie intellektueller Art und das endlose Elend des akademischen Mittelbaus auf dem Weg in eine gesicherte Position.

Tsutsui polarisiert hier einmal mehr nicht nur wegen seiner mangelnden political correctness und seinem fehlenden Respekt vor altehrwürdigen - wenngleich aus seiner Sicht rein scheinheiligen - Institutionen, sondern weil er in diesem Buch das gesamte Frotzel-Arsenal auffährt - von der federleichten Anspielung für Eingeweihte um drei Ecken herum über klassische Parodie und Satire bis hin zu kino-artigem Slapstick, wobei er, wenn er es für passend hält, sogar vor Fäkal-Humor nicht zurückschreckt. Humor kennt hier keine Grenzen - und ebenso keine Gnade.

Gleichzeitig vermittelt der schrullige und dauergeschwätzige Tadano in seinem „zweiten Leben“ als heimlicher Schriftsteller wie auch in seinen Vorlesungen eine ganz reine und tief empfundene Liebe zur Literatur jenseits aller Verkopfungen und Klugscheißerei, sozusagen „straight from the heart“.

Die Leser lernen schnell zu verstehen, dass der einzige Grund, warum Tadano-sensei sich und seinen Lesern diesen ganzen Theorie-Wust antut, einzig und allein darin besteht, die Literatur so unverfälscht wie möglich zu verstehen (übrigens nicht nur die „Höhenkamm-Literatur“, sondern ebenso die vermeintlich minderwertige Schreiberei, also auch in diesem Sinne ist der Band einmal mehr ein postmoderner Roman). Der gute Tadano scheint stets von der Angst umgetrieben zu sein, die Werke der Literatur, die ihn innerlich so sehr bewegen und die ihm als Mensch so viel zu geben vermögen, falsch oder nicht wirklich verstehen zu können. Die Beschäftigung mit verschiedenen literaturwissenschaftlichen Ansätzen ist so offenbar immer wieder der Versuch, sich des eigenen Verstehens von Literatur zu versichern, indem Tadano sein Verständnis an berühmten Geistern kritisch prüft (und dabei diese berühmten Denker wiederum einer kritischen Prüfung unterzieht). Aber - und das merken die Leser erst nach und nach - simultan dürfte es Tadano auch darum gehen, „Grundlagenforschung“ für die Möglichkeit des eigenen Schreibens zu betreiben. Im Roman jedenfalls erhält Tadano unter seinem Pseudonym einen Literaturpreis und macht - hier bleibt sich Tsutsui ganz treu - selbst bei einem Pille-Palle-Literaturpreis die Bekanntschaft mit Paparazzi, Ultra-Kurzzeit-Ruhm und einem völlig überzogenen Hype um seine Person bzw. wahre Identität. Das ist neben anderen Szenen des Romans wirklich urkomisch und flott erzählt, aber dennoch wollte mir das Lachen beim Lesen im Halse stecken bleiben, erinnert die Darstellung doch unwillkürlich an die ekligsten Formen von Medien-Hype, die nur oft genug schon tödlich endeten. Und natürlich erfährt der Preisträger erneut den Neid und die Mißgunst seiner in kreativer Hinsicht verzweifelt impotenten Professoren-Kollegen, die sich ihm gegenüber schon mit Golfpokalen rühmen müssen, in einem grotesken Versuch, ihn herabzuwürdigen.

Das selbstreferenzielle Vexierspiel rund um den Roman im Roman und seine mehreren Realitäts-Ebenen beschließt dann ein Nachwort, dessen Verfasser nicht genannt wird und das es zuguterletzt der Detektiv-Arbeit der Leser überlässt, hier Fiktion von Realität zu trennen, wenn es um die Rezeptionsgeschichte und weitere Hintergründe des Buches wie auch seines Autors geht. So verstanden also ein Lehrbuch im doppelten Sinne: Literaturwissenschaftliche Einführung und literarische Anleitung, die den Titel „Wie schreibe ich einen postmodernen Roman und halte es bis zum Schluß durch?“ tragen könnte.

Wer also Spaß an hintersinnigen postmodernen Universitätsromanen hat, wer derben, politisch unkorrekten Humor schätzt und/oder sich darüber hinaus einmal ein mehr oder weniger überzogenes Bild von den Abgründen so mancher geisteswissenschaftlicher Parallelgesellschaften machen möchte, der wird von diesem Buch satt.


Yoko Ogawas literarische Liebeserklärung an die Mathematik als Kunst-Religion


Yoko Ogawa hätte der Star des Japan-Tags des Harbour Front Literaturfestivals 2012 werden sollen (an dem auch die Japanfreunde Hamburg mit einer Lesung teilnahmen) und nachdem die Veranstalter bereits die Zusage erhalten hatten, klappte es dann leider kurzfristig doch nicht. Besonders bedauerlich für Hamburg, denn Ogawa war bereits einmal im Jahr 2003 im Rahmen des Berliner Internationalen Literaturfestivals zu Gast in Deutschland. Sie ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Japans und ihre seit gut zehn Jahren auf Deutsch erschienenen Romane haben ihr auch in Deutschland eine große und treue Fan-Gemeinde eingebracht.

Wie ist also der Roman des Jahres 2012 von ihr?

„Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ (Originaltitel „Hakase no Aishita Sushiki“) erschien in Japan bereits 2003, in Deutschland nunmehr im Frühjahr 2012. Wer Ogawas Art zu erzählen mag, der wird auch hier voll auf seine Kosten kommen, das Buch ist vor allem in stilistischer Hinsicht ein für Ogawa sehr typischer Roman, zeigt inhaltlich aber völlig neue Qualitäten, die man von Ogawa in dieser Form so auf Deutsch gar nicht kennt.

Das fängt bereits mit dem Thema an. Mathematik? Naturwissenschaft? Ist das denn interessant? - Nun, für Japaner offenbar schon, denn zweieinhalb Millionen Mal(!) verkaufte sich dort der Roman, bevor er in 16 Sprachen übersetzt wurde.

Das deutsche Publikum tut sich erfahrungsgemäß schwer mit dem crossover von Wissenschaft und Kunst - der grandiose historische Roman über das unfassbar abenteuerliche Leben des (Berliner) Erfinders des Computers, Konrad Zuse, dessen Erlebnisse im Bombenhagel des 2. Weltkriegs den Adrenalinspiegel der Leser unfreiwillig in die Höhe treiben, schaffte es in Deutschland nicht in die Bestseller-Listen, obwohl mancher fiktive Geheimagent im Vergleich zu dieser realen Lebensgeschichte wie ein blasser Langweiler dasteht.


Also Mathematik. Worum geht es? Ein brillanter Mathematikprofessor, ein stilles Genie, das immer wieder die internationale Fachwelt zu überraschen vermag, überlebt einen schweren Verkehrsunfall, hat allerdings Zeit seines restlichen Lebens mit einem höchst ungewöhnlichen Folgeschaden zu leben: Sein Kurzzeitgedächtnis umfasst nur noch achtzig Minuten, danach erinnert er sich an nichts mehr und alles beginnt für ihn von vorn, ähnlich wie die Endlosschleife einer alten Videokassette, die immer wieder neu bespielt wird.

Um in seinem Alltag wenigstens grob zurecht zu kommen, heftet er sich kleine Notiz-Zettel an alle möglichen Stellen seiner Kleidung, die ihn alle achtzig Minuten an die ‚basics‘ seines Lebens erinnern sollen. Diese und ein Arsenal weiterer skurriler Verhaltensweisen lassen die Figur den Lesern äußerst plastisch und lebendig vor Augen treten - und sicherlich in ihr Herz schließen. Der Professor lebt in der Obhut seiner Schwägerin und verschleisst wegen seiner schwer zu ertragenden Eigenheiten eine Haushälterin nach der anderen. Erst mit Haushälterin Nummer 9 und ihrem liebenswerten Sohn wird alles anders.

Ob die beiden wollen oder nicht, sie sind aufgrund der unfreiwilligen Eigenarten des Professor gezwungen, in dessen Welt einzutauchen. Puuh... ein Mathe-Genie... wie soll man das bloss aushalten? Was dann passiert, ist aber vollkommen überraschend.

Mathe ist bei Ogawa nämlich ganz anders, als wir das aus der Schule kennen. Der Professor ist ein ‚echtes‘ Genie, das nicht nur gut rechnen kann, sondern der mit seiner Art der Mathematik stets auf der Suche nach der ‚Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit‘ ist. Ein romantischer Topos? Bei Ogawa ein wenig, durchaus. Denn die Mathematik entpuppt sich bei Ogawas Professor als ein Mittel, im scheinbar schnöden, unspektakulären Lebensalltag neue Bedeutungen zu entdecken, unerkannte Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen den Menschen und den Dingen, aber auch zwischen den Menschen, den Dingen und der Natur zu erkennen, oft sogar einen winzig kleinen Einblick in die ewigen Gesetze des Universums und die einer höhren Macht zu erhaschen. Gemeinsam mit Haushälterin Nummer 9 gehen die Leser so auf eine ungewöhnliche Entdeckungsreise, bei der auch die ästhetische Seite der Mathematik immer wieder aufscheint. Die Haushälterin kommt so aus dem Staunen nicht mehr heraus, fängt, im Rahmen ihrer laienhaften Möglichkeiten, sogar selber an, sich für die Wunder der Mathematik zu begeistern.

Wie schafft der Roman das? - Gibt es in dem Roman etwa Zahlen, Formeln, mathematische Grafiken? Haltet euch fest: Ja, die gibt es. Tatsächlich. In einem Roman. Und der Roman ‚funktioniert‘ - man wäre hier geneigt zu schreiben ‚dennoch‘ -, aber genau das stimmt in diesem Fall nicht. Und das macht den Roman angesichts des schwierigen Themas so bemerkenswert. Der Roman funktioniert nicht trotz, sondern gerade mit der Mathematik. Ein bemerkenswerter Aha-Effekt.

Auch wenn mir persönlich als jemanden, für den die Schul-Mathematik ein nicht enden wollendes Horrorspektakel darstellte, in manchen Passagen die Darstellung etwas zu ausführlich erschien, schafft es der Roman dennoch mit viel Liebe und Hingabe an die Sache, selbst solch hoffnungslosen Fällen wie mir die ‚Wunder der Mathematik‘ deutlich zu machen, insbesondere auch, zu welchen oft faszinierenden Erkenntnissen man kommen kann, wenn man versucht, die Welt mit den Augen der Mathematik zu sehen.

Die so wahrnehmbare ‚Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit‘ mit ihren ewigen Gesetzen geben den Romanfiguren immer wieder einen starken inneren Halt, insbesondere, wenn ihre Psyche in unerbittlich-grausame Abgründe blicken muss. Hier wird die Mathematik gerade mit Hilfe ihrer ästhetischen und philosophischen Seiten zu einer Art Religion ohne Religiosität, einer Art intellektueller Kunst-Religion, die ihre Anhänger die Welt neu und reicher erfahren lässt. Und wer möchte, kann als Leser davon einfach etwas mit in sein Leben hinein nehmen.

Umgekehrt bringen Haushälterin und Sohn aber auch die bis dahin verschüttete menschliche und emotionale Seite des Professors wieder zurück in seine schwierige, überschaubar kleine Alltagswelt. Eine tragische, vergangene Liebe, seine mehr als vorbildliche väterliche Sorge um den Sohn der Haushälterin, ungewohnte menschliche Nähe, eine bedingungslose Leidenschaft für Baseball und vieles anderes, Herzerwärmendes und Trauriges, allesamt besondere Momente aus der ganzen Bandbreite eines eigenwilligen Lebens.

Der Roman fragt aber auch sehr geschickt nach dem, was bleibt - am Ende eines Lebens, was einen Menschen in seinem Kern ausmacht, wie wichtig das Erinnern für die Identität eines Menschen ist, was die innere und äußere Würde eines Menschen ausmacht, worauf es rückblickend in einem Leben ankommt...

Trotz aller Lebendigkeit der Figuren entwickelt dieser Roman Ogawas vielleicht nicht die verblüffende, metaphysische Sogwirkung, die viele ihrer anderen Arbeiten so besonders macht. Dafür bietet der Roman viel anregenden Stoff zum Nachdenken, wobei sie es schafft, dem ihr zentralen Thema Spiritualität eine für ihr Werk neue und wichtige Facette abzugewinnen, wodurch ihr Werk nun als wesentlich ganzheitlicher ausgerichtet erscheint. Ein Roman, der sicherlich viele Augen öffnet und dessen Kunst-Religion hoffnungsfroh stimmt.

(c) Tadashi Okochi
Der Verlag Liebeskind hat sich um die Etablierung der Autorin in Deutschland bislang sehr verdient gemacht, ihr eine Fan-Gemeinde erschlossen, die der Verlag mit regelmäßigen Neu-Veröffentlichung gut versorgt. Die Bücher sind nicht nur ansprechend gestaltet, auch findet sich - so weit ich dies beurteilen kann - in der Übersetzung nur selten einmal ein (wenn dann marginaler) Fehler. Was aber heftig zu bedauern bleibt: Die deutsche Leserschaft erreichen die Bücher Ogawas nur mit einer gehörigen Verspätung - im vorliegenden Fall erschien der Roman in Japan fast zehn Jahre früher.

Wenn die größte deutsche Buchhandelskette anfängt, in ihren Buchhandlungen nun auch diverse Geschenkartikel und bald wohl mehrheitlich „non-books“ anzubieten, nachdem bereits vielerorts die Gastronomie dort eingezogen war, macht dies überdeutlich, dass den Verlagen in Deutschland ein eiskalter Wind stramm ins Gesicht weht.

Deshalb sollten die verbliebenen Leser aufrichtiges Verständnis dafür zeigen, dass ein Verlag erst einmal abwartet, ob sich ein Titel international in Gestalt hoher Verkaufszahlen bewährt, bevor er das Risiko eingeht, das Buch auch auf dem demografisch schrumpfenden deutschen Markt zu veröffentlichen. So jedoch sind die deutschen Leser, die nicht über profunde Japanisch-Kenntnisse verfügen, von der aktuellen literarischen Entwicklung in Japan restlos abgeschnitten, haben keine Chance zu erfahren, in welche Richtung sich ihre Lieblingsautorin aktuell entwickelt.

Das ist sehr schade. Denn die Sprache der Kunst  wie auch der Mathematik lebt vom internationalen Austausch, vom zeitgenössischen Dialog derjenigen Menschen, die in diesen gedachten Welten leben.



Japan richtig verstehen!?

Mit seinem Buch „Fukushima - Der Westen und die Kultur Japans“ kämpft Sascha W. Felix gegen deutsch-japanische Mißverständnisse und katastrophalen Katastrophen-Journalismus


Ein Rezensent sollte in einer Buchbesprechung Objektivität walten lassen - was mir jedoch anläßlich der letzten Veröffentlichung des Anfang Januar diesen Jahres leider viel zu früh verstorbenen Sprachwissenschaftlers Sascha W. Felix doppelt schwer fällt.

Zum einen hatte ich mehrfach das Vergnügen, Professor Felix bei seinen Vorträgen zu erleben und muss deshalb als im positiven Sinne befangen gelten, denn in sehr angenehmer Erinnerung bleibt mir das Blitzen und Leuchten in seinen Augen, wenn er über Japan sprach, stets begeistert und mit der Erfahrung eines intimen Freundes Japans, wobei seine „Außenperspektive“ auf das Land aufgrund seiner engen persönlichen Kontakte mitunter fast schon als subjektiv gefärbte japanische Innenperspektive gelten konnte.

In den nunmehr eineinhalb Jahrzehnten, in denen ich mich mit Japan beschäftige, habe ich nur selten eine „Langnase“ getroffen, deren Vorträge so profunde Innenansichten Japans auf faszinierende, unterhaltsame und stets persönliche Weise vermitteln konnten, obwohl Felix es stets (wie auch in diesem, seinem letzten Buch) ablehnte, als „Japanexperte“ zu gelten - und das trotz der Tatsache, dass Japan über mehr als eineinhalb Jahrzehnte schon fast als sein „Zweitwohnsitz“ gelten konnte und er für seine Arbeit als Präsident der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Passau vom japanischen Kaiser mit dem Orden der aufgehenden Sonne ausgezeichnet wurde. Im Gegenteil zu Professor Felix begegneten mir in der Vergangenheit dagegen häufiger Deutsche, die für mehrere Jahre in Japan aus beruflichen Gründen gelebt hatten (oder einen japanischen Ehepartner hatten) und weitaus weniger von der Kultur Japans verstanden. Und nicht zuletzt: Seine Kenntnisse der japanischen Sprache machten uns Sprachanfängern viel Mut - Professor Felix bewies, dass tatsächlich auch deutsche Muttersprachler Japanisch in Wort UND Schrift erlernen können. Seine Tipps zum Japanischlernen, die er stets bereitwillig und großzügig gab (Vorsicht: Blitzen in den Augen!), waren wirklich sehr hilfreich (damals wußte ich noch nicht, dass er zu den führenden Wissenschaftlern seiner Generation in Sachen Fremdsprachenerwerb zählte).

Zum anderen habe auch ich mit dem Problem des Mißverstehens der japanischen Kultur zu kämpfen, mit dem sich das Buch über weite Strecken befasst, denn auch mein eigener - deutsch-italienisch-angloamerikanischer - Blick auf Japan ist höchst subjektiv gefärbt und Ergebnis meines eigenen Zugangs zu Land und Kultur. Doch das Buch widmet sich über das Problem des richtigen oder falschen Verstehens der japanischen Kultur, insbesondere aufgrund der mehr oder minder stereotypen Berichterstattung in den hierzulande dominierenden Medienformaten, auch noch weiteren Themen, bei denen die subjektive Perspektive der Leser weniger ins Gewicht fällt.

Der einhundertsiebenundachtzigseitige Band lässt sich zunächst grob in zwei so gut wie gleich umfangreiche Teile aufgliedern. Im ersten Teil des Buches schildert Felix, warum er eine bereits länger geplante sowohl berufliche als auch private Reise in den Nordosten Japans Ende März 2011 trotz der Reaktorkatastrophe nicht absagte und wie sich seine subjektiven „innerjapanischen“ Erfahrungen aus erster Hand darstellten, wobei diese‚ Erfahrungen schließlich dafür sorgten, dass er sich mit der Berichterstattung über Erdbeben und Reaktorkatastrophe in den deutschen Medien sehr kritisch bis polemisch auseinandersetzt. Im zweiten Teil des Buches gibt Felix dann einen „Crashkurs“ über japanisches Denken und Verhalten, das allen Neu-Interessierten helfen kann, kulturelle Unterschiede besser (und vor allem möglichst vorurteilsfrei) zu verstehen.

Offen gestanden sagte mir - wohl aufgrund meiner eigenen „Prägung“ - der zweite Teil des Bandes wesentlich mehr zu als der erste. Hier sind viele Informationen versammelt, die aus früheren Vorträgen über Japan stammen und hier zeigt sich Felix von seiner gewohnt fesselnden, humorigen und originellen Seite. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Teil weitaus länger von Interesse für die Leser bleiben wird, als die aktuelle Diskussion um Fukushima, die Folgen und seine mediale Darstellung. Denn Felix macht auf knappen Raum vieles besser als andere Darstellungen über Japan: 

Seine Beispiele zum Verständnis typisch japanischer kultureller Besonderheiten (und Eigenheiten!) sind aus dem Alltagsleben mit Bedacht gewählt, sind höchst interessant und ohne Umschweife kompetent wie verständlich erklärt und deshalb ideal für „Einsteiger“. Die Leser bekommen tatsächlich ein gutes Gefühl für das, was sich grob als japanische „Mentalität“ bezeichnen ließe - und zwar für die „Lichtseiten“ (aus westlicher Sicht) genauso wie für die (für uns eher nervigen) „Schattenseiten“. Leser in späteren Zeiten werden hier einmal sehr aufschlußreiche kulturgeschichtliche Blitzlichter der gegenwärtigen Epoche in Japan finden können. Gleichzeitig vergisst der Band aber auch nicht, seine Leser mit den wichtigsten grundlegenden geschichtlichen Hintergründen zu versorgen und sogar einen gedrängten Einstieg in die Eigenheiten und den Aufbau der japanischen Sprache zu geben, wie immer bei Felix stets im interkulturellen Vergleich. Wer seine Vorträge kannte, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein auch viele junge Menschen begeisterten, findet hier über weite Passagen „Professor Felix at his best“.

Ein wesentlich geteilteres Echo dürfte hingegen der erste Teil des Buches finden, der dem Band den Titel gab und der den aktuellen Anlaß für dessen Veröffentlichung darstellte. 

Zunächst gibt das Buch interessante Einblicke in den Lebensalttag im Nordosten Japans im Kontrast zur Weltstadt Tokyo. Wie bei Professor Felix üblich erhält der Leser auf kompakte und unterhaltsame Weise die historischen Hintergründe gleich mitgeliefert und erfährt nebenbei alles Wissenswerte über die in Japan viel diskutierte „Inselmentalität“ der Japaner. Aufschlußreich sind auch die Schilderungen der Lebensumstände und der Versorgungslage auf seiner Reise (S.48ff.). Ebenso kontrastiert der Text im Folgenden die Ruhe, Geduld und Sachlichkeit, mit der in Japan versucht wurde, die Notsituation zu beherrschen mit der „Welle der Panik und Hysterie“ (S.19) im achttausend Kilometer entfernten Deutschland, wobei der deutschen Presse vorgeworfen wird „in apokalyptischen Endzeitvisionen“ zu schwelgen (S.19).

Und genau hier dürften die Meinungen wohl dauerhaft auseinandergehen, denn war die vorübergehende Warnung des Auswärtigen Amtes vor Flügen nach Japan wirklich „reine Panikmache“ (S.21), wie Felix glaubt und der Exodus der westlichen Ausländer „um ihre Haut zu retten“ (S.21) in der damaligen Situation tatsächlich so verwerflich? Hier muss wohl jeder für sich selbst entscheiden.

Wer der deutschen Medienberichterstattung hingegen Einseitigkeit vorwirft, so wie Felix, kann allerdings so gut wie nie falsch liegen – im vorliegenden Fall war es die Tatsache, dass die recht baldige Rückkehr der meisten Botschaften nach Tokyo gezielt unerwähnt blieb (S.21) und auch die ausgeprägte Sensationsgier samt Wertungen deutscher Medien stellt Felix vollkommen zu Recht an den Pranger. Auch wenn man über die von Felix gewählte Tonart geschmacklich streiten mag, erhellend sind die gewählten Beispiele allemal. Gleichzeitig berichtet Felix von japanischer Verachtung und Zorn über „German Angst“ (S.21) sowie Deutsche, die in Japan blieben und sich über die deutsche „Atompanik“ lustig machten (S.22). Felix baut hier einen Gegensatz auf zwischen der laut seiner Darstellung sachlichen japanischen Berichterstattung und der reißerischen deutschen. Es bleibt aus medienwissenschaftlicher Sicht jedoch die Frage, ob diese „Sachlichkeit“ der japanischen Medien nicht ebenso einem bestimmten Zweck unterworfen ist wie die absatzorientierte Emotionalisierung der deutschen Berichterstattung (vgl. S.29), nämlich durch betont emotionslose, rein Fakten darbietende Nüchternheit die Emotionalität aus den kommunizierten Inhalten herauszunehmen und so das Aufkommen von Angst, Schrecken und Panik durch Emotionslosigkeit gezielt zu vermeiden? 

Aus medienwissenschaftlicher Sicht ist weder die eine noch die andere Art mit Nachrichten umzugehen zweckfrei oder „neutral“ – zumal laut Felix bei der sachlichen Berichterstattung das staatliche Fernsehen die Vorreiterrolle besitzt (S.35). Man muss einem Staatssender nicht korrupte, komplizenhafte Verschwörung mit der Energieindustrie unterstellen, wie dies gegenüber NHK von deutschen „kritischen“ Journalisten getan wurde - ob man einem Staatssender jedoch völlige Interessenlosigkeit unterstellen darf, wie der Autor dies offenbar tut, mögen die geneigten Leser selbst entscheiden.

Wenn Menschen in einem Umkreis von dreißig Kilometern um das Atomkraftwerk Fukushima das Betreten des Geländes verboten wird, spricht man im Japanischen laut Felix von „Überwachungszone“, im deutschen „Panikjournalismus“ (S.24) hingegen von „Todeszone“ (S.24). Derlei Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen. Der Autor bezichtigt deutsche Journalisten häufig deshalb der Panikmache, weil sich zum Zeitpunkt der Berichterstattung nichts genaues über die Situation sagen ließ. In diesem Sinne klagt das Buch die Kritisierten zu Recht der Unseriösität an – doch bedeutet dies gleich, dass die Ereignisse in Fukushima letztlich harmlos sind? Diesen Eindruck erweckt das Buch jedoch verschiedentlich (vgl. S.87, S.97).

Wenn zum Beispiel zum Zeitpunkt der Abfassung eines Artikels über das Ablassen von tausenden von Tonnen radioaktiv verseuchten Wassers in den Ozean der deutschen Autorin des Artikels vorzuhalten ist: „was das für die Umwelt in der Zukunft bedeutet oder auch nicht, weiß weder sie [die kritisierte deutsche Journalistin, T.T.T] noch irgendjemand anderes“ (S.25), dann ist aufgrund dieser Wissenlücke bis zum Vorliegen der fehlenden Informationen aus rein logischer Perspektive jede Deutung möglich – von der Apokalypse bis hin zur Meinung, das sei alles nicht wirklich bedrohlich.

Treffender erweist sich die Kritik des Bandes wiederum, wenn belegt wird, dass deutsche Journalisten mitunter deshalb Unsinn berichten, weil sie keine Ahnung von der japanischen Entschuldigungskultur haben (S.30). Gut belegt wird auch, dass deutsche Journalisten in der Regel nur aus zweiter oder dritter Hand berichten, weil ihnen Japanischkenntnisse fehlen. Hierbei erweist sich als problematisch, dass englischsprachige Quellen aus Japan sich von japanischen Quellen in der Landessprache mitunter deutlich unterscheiden. Nach meiner eigenen Erfahrung aus meiner Zeit als Journalist kann ich hier noch ergänzen, dass fast alle Kollegen, die ich in diesen Jahren kennen lernte, nicht einmal über halbwegs solide Englischkenntnisse verfügten, was das Ganze noch schlimmer macht. Gleichwohl räumt Felix ein, dass aufgrund dieser Lage beispielsweise die Nachrichtenagentur Kyodo mit ihrer Auswahl an Nachrichten in englischer Sprache „zumindest teilweise für das Panikbild in der westlichen Presse mit verantwortlich zu sein“ scheint (S.31).

Zu teilen ist aus meiner Sicht die Kritik, dass bundesdeutsche Medien durch ihre Wertungen die Darstellung oft – teilweise sogar grotesk – verzerren, wofür der Text eindeutige Beispiele anführt (vgl. S.72f.) und ich schließe mich ebenfalls der Kritik des Buches an, dass sich unsere Journalisten für internationale Ereignisse außerhalb der „westlichen Hemisphäre“ zu wenig interessieren (S.38). Der Autor geht dann aber so weit, diesem Zentrismus die unausgesprochene Überzeugung zu unterstellen: „WIR sind die Herren der Welt und wir sagen den anderen, wo es lang geht.“ (S.38). Hier geht der Text erneut genau so vor, wie die Journalisten, die er zu Recht kritisiert. Schade. Mitunter stimmt der Text sogar ein „germans bashing“ an, die sich angeblich allzu leicht überfordert und verunsichert fühlen und gleich nach Mutter Staat rufen (vgl. S.52, S.58).

Der Darstellung des Buches zufolge war bereits Ende April 2011 das Stromsparen in Japan ein wichtigeres Thema als die mögliche Strahlenbelastung (S.60). Letztlich bleibt trotz der nachdrücklichen Darstellungsweise auch nach der Lektüre vieles für die Leser offen für eigene Interpretationen: Wenn Felix richtigstellt, dass der damalige Premier die Haltung zur Kernenergie anläßlich der Ereignisse in Fukushima überdenkt, dann müssen die Leser wohl selbst entscheiden, ob dies, wie die deutsche Presse (nach Felix zu Unrecht) titelt, eine „radikale Wende“ in der Energiepolitik Japans darstellt oder nicht (vgl. S.75). Ketzerisch ließe sich in diesem Zusammenhang bei so viel Polemik fragen, ob die Entscheidung, die japanischen AKWs nach Fukushima einem „stress test“ zu unterziehen am Ende nicht doch ein Ausdruck von „German Angst“ war?

Zentraler Vorwurf des Buches an die deutsche Medienlandschaft bildet die Behauptung „Nur solche Nachrichten werden in den Vordergrund gerückt, die dem propagierten Weltbild entsprechen bzw. die sich für Horrorszenarien eignen.“ (S.83). Der Band zitiert hier einen Focus-Bericht, demzufolge auf dem damaligen Niveau Gesundheitsschäden in der Evakuierungszone laut japanischen Forschern ausgeschlossen seien (S.83). Aber solche Nachrichten erschienen laut Felix bloß am Rande, denn die „Leser sollen ja nicht informiert werden, sondern in ihren Meinungen und Anschauungen entsprechend der Redaktionslinie manipuliert werden.“ (S.84). Stimmt’s?

Im Folgenden zieht der Text als Vergleich die Katastrophe in Tschernobyl heran und zitiert aus einem WHO-Bericht, dem zufolge von 1986 bis 2005 insgesamt fünfzig Personen an radioaktiver Verstrahlung starben (S.87) – will der Text hier unterschwellig verharmlosen?

Ähnlich zweifelhaft will mir eine andere Passage erscheinen, in der der Autor zu bedenken gibt, dass nicht nur Regierungsverlautbarungen kritisch zu hinterfragen sind, sondern auch die Angaben derjenigen Nicht-Regierungs-Organisationen, die die Aussagen der Regierung in Frage stellen, denn, wenn laut Felix diese Organisationen (wie Greenpeace oder Global 2000) die Umweltgefahren nicht dramatisieren oder übertreiben würden, „so würde sich die Organisation vom Ansatz her selbst überflüssig machen“ (S.97). Positionen, die die Lage in Japans Nordosten als gefährlich oder bedrohlich einschätzen, kommen so bei Felix erst gar nicht zu Wort, wodurch sein Buch ebenso selektiv mit Informationen umgeht wie die Journalisten, die von Felix der unangemessenen bis tendenziösen Auswahl von Informationen beschuldigt werden (vgl.97).

Der für Felix letztlich zentrale Punkt der (kulturbedingten) unterschiedlichen Berichterstattung besteht darin, dass japanische Medien sich auf die Frage „Was ist passiert?“ konzentrierten, deutsche Medien hingegen sich auf die Frage fokussierten „Was könnte passieren, wenn dieses oder jenes einträte?“ (S.88). Mir erscheint, dass für sich allein genommen beide Einstellungen deutliche Nachteile für das menschliche Handeln aufweisen, eine „Symbiose“ wäre meines Erachtens sicherlich vorteilhafter.
  
Gleichzeitig wird der Band in seiner grundsätzlich berechtigten Schelte deutscher Pseudo-Experten aber leider mitunter so ausnehmend polemisch, daß der Text genauso unsachlich zu werden droht wie die Äußerungen der kritisierten deutschen Journaille. Auch Felix emotionalisiert nach Kräften statt sachlich zu bleiben und liefert die Wertungen der dargestellten Ereignisse gleich mit – was, wie der Band selbst nahelegt, vielleicht „den Deutschen“ in „den Genen“ stecken mag...

Dennoch möchte ich trotz der hier genannten Einwände das Buch vor allem für Einsteiger in das Thema Japan, aber auch für alle Anfänger im Bereich „irgendwas mit Medien“ wärmstens empfehlen, denn trotz aller gelegentlichen Einseitigkeit und teilweise krassen Polemik öffnet das Buch auf amüsante Art und Weise die Augen für das katastrophale Niveau des deutschen Journalismus, also einem im doppelten Wortsinne „Katastrophen-Journalismus“, der in unserer Gegenwart vollkommen zu Recht konstant an Bedeutung verliert. Und darüber hinaus gibt es einen ersten Einblick in die Mentalität, Geschichte und Eigenheiten Japans aus der für uns Japan-Besucher so wichtigen Alltagsperspektive, den man sich vor der ersten Reise oder den ersten Kontaktversuchen zu Japanern unbedingt einmal zu Gemüte geführt haben sollte.
 
Bibliographisches: Felix, Sascha W. (2012): Fukushima - Der Westen und die Kultur Japans. LIT-Verlag, Münster. 

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Unser Tip: Wer noch viel, viel mehr über japanische Literatur erfahren möchte, dem sei die folgende Seite empfohlen: http://japanliteratur.net/

Wir wünschen viel Freude beim Lesen!

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Eigene Projekte:


Japanische Märchen und Samurai-Geschichten

Nachdem 1999 die Künstlerin Mori Mariko mein Interesse für Japan mit einer Kunst entfacht hatte, die z.B. Shintoismus mit futuristischem High-Tech vereinigte, befasste ich mich auch mit den traditionellen Seiten japanischer Kunst und Literatur und stellte zu meinem Erstaunen fest, wie interessant und aktuell viele japanische Märchen auch heute noch sind - von witzigen Parallelen zu unseren deutschen Märchen einmal abgesehen. Manche Stoffe handeln von großen Gefühlen, die auch tatsächlich bei den Lesern ankommen, vermitteln viele Einsichten in die "Natur des Menschen", sind einfach nur lustig bis grotesk oder geben Einblicke in zen-buddhistisches Denken bis hin zu dem, was man wohl mangels eines genaueren Begriffs "Mentalität" nennen könnte.

Die Bücher mit japanischen Märchen, die es bis dahin auf Deutsch gab, hatten aber für meinen Geschmack einige gravierende Nachteile. Die Auswahl war oft sehr "gemischt" - wirklich spannende Märchen mit langweiligem Krams wahllos ohne "roten Faden" hintereinander abgedruckt, viele Göttergeschichten, die für deutsche Leser ohne fundierte Vorkenntnisse im Shintoismus gar nicht verständlich waren und das Schlimmste: eine vollkommen veraltete Sprache.

Das Buch, das ich gerne gekauft hätte, gab es offenbar leider nicht, also musste ich es wohl oder übel selbst herausbringen. Viele Kreative kennen bestimmt, was danach kam: Von der ersten Idee, die vollkommen klar, zum Greifen nah im Kopf schwebte bis zum "Ding", das sich dann tatsächlich in den Händen halten lässt, war es dann doch ein ungeahnt weiter Weg.

Zunächst einmal ging über ein Jahr intensiver Recherche in's Land, bis die geeigneten Übersetzer gefunden waren. Neu sollte die Übersetzung sein, und frisch, und nah an der heutigen Alltagssprache, und die Charaktere auf den Punkt bringen, und geeignet zum Vorlesen, auch für Kinder, jugendfrei aber nicht "politisch korrekt", und quasi eine "best of"-Anthologie mit Liebesgeschichten, Tiermärchen, Schwänken und, logisch... die Samurai! Die Samurai durften nicht fehlen und auch nicht eine Zen-Geschichte, die Zen wirklich "rüberbringt", und, und, und... ach ja, einen Bezug zu unserer Partnerstadt Osaka sollten die Geschichten natürlich auch noch haben! (Verleger sind üble Nervensägen, ich geb's zu.)

Ich weiß nicht wie, aber irgendwie schafften Noburo Yamada und Claus-Maria Carstensen diese "Quadratur des Kreises" - dass die zwei dafür ebenfalls über ein Jahr brauchten, nun ja, das finde ich im nachhinein sogar ziemlich schnell (bei dem nervigen Verleger...).

Die Freude war schließlich groß, als aus dem Buch-Wunsch tatsächlich ein Buch geworden war:


Ein Buch ist manchmal wie ein "geistiges Kind" - es entwickelt ein reges Eigenleben, das die "Eltern" manchmal sehr überrascht. Allan Guilpain ist ehemaliger Hamburger und ein sehr fähiger Übersetzer, der die Geschichten dann wiederum gut ein Jahr später ins Englische übersetzte:


Paris-Fans wissen, dass die französische Hauptstadt eine weltweite Hochburg für Japan-Fans aus ganz Europa (und auch Übersee) ist. Kerstin Liffers übersetzte die Geschichten mit einer enormen Detailgetreue und sozusagen "Gefühlstreue" ins Französische:



Wie es wohl weitergeht? Werden noch mehr Sprachen dazu kommen? Es bleibt spannend!




"Photo meets Manga"


Als "gelernter" Medieninformatiker liebe ich das Internet und das Zwischennetz war es auch, das mich durch einen reinen Zufall die in Dortmund und New York lebende Künstlerin Eva Horstick-Schmitt finden ließ. Die Bilder ihrer Serie "Photo meets Manga" leuchteten mir gefühlsmäßig sofort ein, solche Arbeiten hatten in der zeitgenössischen Kunst einfach noch gefehlt!

Wer sich näher damit beschäftigt, wird über die ansprechende Ästhetik der Arbeiten hinaus auch viel "Nahrung" für Herz und Verstand finden. Die Arbeiten in die Reihe "Art2Go" meines damaligen Verlages aufzunehmen, die über außergewöhnliche Positionen zeitgenössischer Kunst berichtet, war die erste naheliegende Idee, die sich dank der einfühlsamen Analyse der Düsseldorfer Kunsthistorikerin Sophie Blady und der umfassenden Unterstützung durch die Künstlerin auch unkompliziert umsetzen ließ.

Etwas "abgefahrener" war da schon der Versuch, die Arbeiten von New York nach Hamburg zu holen und sie auch einmal in der Hansestadt auszustellen. Was danach in den Zeiten einer der schlimmsten Weltwirtschaftskrisen mit einer "Vorlaufzeit" von fast zwei Jahren geschah, finde ich bis heute erstaunlich:

Dank der Offenheit der Deutsch-Japanischen Gesellschaft zu Hamburg e.V. und der tatkräftigen Unterstützung vieler namhafter Sponsoren war es im Herbst 2010 tatsächlich möglich, die Arbeiten im Herzen Hamburgs, in der Hamburger Mönckebergstraße zu zeigen - und zwar in der Galerie einer "shopping mall", ganz so wie das in Japan auch überaus häufig geschieht. Ganz ohne "Schwellenangst" hatten so sehr viele Menschen kostenlos Gelegenheit, in die Arbeiten einzutauchen. Besonders gefreut hat es mich, dass die Ausstellung auch von vielen japanischen Besuchern gesehen wurde. Nicht nur die Ausstellung selbst, sondern auch das Rahmenprogramm mit Manga-Zeichenwettbewerb, Cosplay-Wettbewerb, Anime-Vorführungen, Lesung, Vorträgen etc. sind einen Rückblick wert.

Wer mehr erfahren möchte, findet in diesem Blog weitere Informationen in der Rubrik
-> Japan in Hamburg: Rückblicke.

Wer das "Art2Go"-Heft über "Photo meets Manga" seiner Sammlung einverleiben möchte, schreibe eine e-mail an japanfreundehamburg [at] googlemail.com.